Helmut Oehring / Tatjana Orlob / Christina Schönfeld

28.11.1998
Volksbühne im Prater

Acht (aus: Der Riss) 1998 (UA)
Musiktanztheater für eine Solotänzerin, sieben Darstellerinnen, Projektionen, Zuspiel und Live-Elektronik
Helmut Oehring (Musik, Text), Tatjana Orlob (Choreografie, Tanz), Christina Schönfeld (Chorleiterin)

Helmut Oehring ist einer der ersten Komponisten, der das Existentielle der Sprachen und die unüberbrückbare Kluft zwischen Laut- und Gebärdensprache in seiner musikalischen Arbeit zu zeigen versucht. Seine Musik kommt aus der Bewegung und aus der filmähnlichen Bildhaftigkeit der Gebärdensprache, ihrem blitzschnellen Wechseln der zeitlichen Ebenen, dem Hin und Her von Close-up und Totale. Er mixt Harmonien und Klänge, zitiert Musikstile und Umweltgeräusche, läßt Sängerinnen gebärden und stumme Performerinnen singen, sprechen, schreien. Mithilfe des circle-surroundsystems (GOGH-surround music production Berlin) bewegt sich das Klangspektrum seiner Musik von allen Seiten in den Raum hinein, wird der menschliche Körper zum schwingenden und vibrierenden Instrument. Oehrings Musik wendet sich an die hörende wie an die gehörlose Welt, zeigt deren ästhetische Autonomie und Eigenständigkeit und hat doch kaum eine Chance, adäquat erfahren zu werden. Nur wenige Hörende sind mit der Gebärdensprache vertraut. Wenige Gehörlose kennen die gesprochene Sprache und ihre Musik. Viele von ihnen sind von Geburt an taub. Einige können mit einem restlichen Hörvermögen den musikalischen Klang erahnen.

Oehrings Musiktanztheater „ACHT (aus: Der Riss)“ für eine Solotänzerin, sieben gehörlose Darstellerinnen und Darsteller, Projektionen, Zuspiele und Live-Elektronik ist in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Tatjana Orlob entstanden, die Ausschnitte ihres aktuellen Solo-Tanzprojektes „Prisma“ integriert. Die oben zitierten „Acht Texte, die zu Ver-Tonen-Ver-Tanzen-Ge-Bärden sind“ (Oehring), sind eine Art Synthese aus Laut- und Gebärdensprache, wobei die Syntax der Gebärdensprache übernommen wurde. Sie stellen für die Musik von Oehring wie für die künstlerische Arbeit von Christina Schönfeld den Ausgangspunkt dar. Christina Schönfeld war es, die zum ersten Mal in der Geschichte der Gehörlosen Europas als Gebärdensprachsolistin mit Profimusikern auf der Bühne stand und sich traute, im zeitlichen Verlauf einer Partitur eine mit der Musik koordinierte Gebärdenstimme vor Publikum auszuführen. Für „ACHT (aus: Der Riss)“ hat sie als Regisseurin die Texte mit dem Chor des „Zentrums für Kultur und Visuelle Kommunikation Gehörloser Berlin/Brandenburg e.V.“ einstudiert. Musik, Gebärden, Tanz und Texte drücken mit größter Deutlichkeit das Grundgefühl vieler Gehörloser und Schwerhöriger aus, zwischen den Welten und ihren Wirklichkeiten zu stehen.

Tatjana Orlob (TanzLabor Berlin), die seit 1983 mit eigenen Solotanzprojekten im In- und Ausland gastiert, thematisiert in ihrem jüngsten Projekt „Prisma“ erstmals die eigene „Schwerhörigenproblematik“: „Im Gegensatz zur Welt der Stille bei den Gehörlosen, handelt es sich bei den Schwerhörigen um eine Welt der Halbstille, um eine Zwischenwelt, die ich darstellen möchte … Die Musik als Part der Außenwelt und Gemeinschaft ist Freund und Feind zugleich. Schwerhörigkeit wird als Gier nach Zugehörigkeit, nach Partizipation an der Welt gezeigt, als zwanghafter Versuch des Guthörens und des ständigen Scheiterns an diesem Versuch.“ (Orlob) In „ACHT (aus: Der Riss)“ wird Tatjana Orlob Teile dieser Arbeit zeigen.

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